Aus der Veröffentlichung "Reden über das Bild Tanz ums Kreuz von Georg Baselitz"
Hrsg.von Klaus Hoffmann
Alle Reden können online oder als download der gesamten Publikation im PDF-Format gelesen werden
Hans Joachim Dose
Pastor in der St. Annen Kirche, Luttrum, bis 2000
Tanz ums Kreuz
Gedanken zum Bild von Georg Baselitz
Meine Damen, meine Herren!
Ich freue mich, dass Sie mir für einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit schenken wollen. In Dänemark, sagt man, dauert der Augenblick eine halbe Stunde. In dieser halben Stunde will ich Ihnen etwas davon erzählen, was ich an diesem Bild beobachtet habe. Vielleicht·hilft es Ihnen, dass Sie mehr mit dem Bild anfangen können.
Ich habe die Menschen beobachtet, wie sie vor dem Bild gestanden oder gesessen haben, vielleicht waren es 5.000 oder 6.000, die in den 41 Monaten nach Luttrum gekommen sind. Wir haben über 100 Gottesdienste gefeiert, darunter Taufen, Hochzeiten und Abendmahlfeiern. Wir hatten auch besondere Musikveranstaltungen.
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Birgit Beuger
Damalige Vorsitzende des Kirchenvorstandes Grasdorf/ Luttrum
Meine Damen und Herren!
Ich bin dankbar für die Gelegenheit, hier heute einmal aus der Sicht des Kirchenvorstandes zu berichten. Der Ehrlichkeit halber muss ich sagen, wenn ich vom Kirchenvorstand spreche, dann meine ich die Mehrheit der Kirchenvorsteher im Kirchenvorstand Grasdorf. Bei diesem Thema 'Baselitz Bild' sind wir neun Kirchenvorsteher nämlich geteilter Meinung. Es ist nicht etwa so, dass sich Fraktionen gebildet haben, nein es gibt durchaus wechselnde Mehrheiten: und es gibt auch einstimmige Beschlüsse, so z.B. der Beschluss, unser Bild auf Bitten der Medienzentrale für einen begrenzten Zeitraum hier in der Neustädter Kirche auszustellen.
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Matthias Riemann, Pastor
Mitglied der Sprechergruppe des Arbeitskreises Kirche Künste Kultur in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers
Sehr verehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie heute Mittag zu 20-30 Minuten Kunst in der Kirche1. Anlaß ist das Bild von Georg Baselitz, Tanz ums Kreuz, das durch seine Platzierung in der Luttrumer St. Annen Kirche zu erheblichen Auseinandersetzungen in Gemeinde und Landeskirche geführt hat. Paßt es da hin? Ist es nicht zu groß? Provoziert es nicht zuviel? Wäre ein bisschen Provokation nicht ausreichend? Muß der Christus denn unbedingt auf dem Kopf stehen? Hätte er nicht ein wenig realistischere Kleidung anhaben können? Warum sind seine Augen geschlossen? Wie soll man die Farben verstehen? Über diese Fragen ist in Luttrum lange nachgedacht worden und jetzt hängt das Bild hier in der Neustädter Kirche an einer anderen Stelle, um das Bild möglichst unanhängig vom Ort seines kontroversen Plazierens diskutieren zu können.
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Dr. Beatrix Nobis,
Kunstwissenschaftlerin
Die Rolle, die die Kirche als Auftraggeber, Kunstförderer und Kunstmäzen heute spielt, ist, den historischen Entwicklungen gemäß, eher untergeordnet. Wem nun die „Schuld" zu geben ist, dass die an den sakralen Raum gebundene Kunst seit zweihundert Jahren meist als Kunstgewerbe, oft auch als marginale Schwundstufe zeitgenössischer stilistischer Strömungen auftritt, ist weniger als moralische, sondern als gesellschaftliche, vielleicht auch als kunstphilosophische Fragestellung von Bedeutung. Hat die "Entgöttlichung" der Welt dazu geführt, dass kaum noch ein Künstler von Rang bereit oder in der Lage ist, sich mit theologischen Problemen oder auch nur der angemessenen Verbildlichung der biblischen Geschichte auseinander zu setzen?
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Jürgen Schipper, Pastor
Mitglied der Sprechergruppe des Arbeitskreises Kirche Kunst Kultur in der Ev.-lut h.Landeskirche Hannovers
Eine Frage vorweg. Sitzt hier jemand, der das Bild noch nicht gesehen hat?
Es zeigt sich: Viele, die hierher kommen, haben ihr Bild vom Bild im Kopf, suchen im Original den Beleg, für den „Tanz ums Kreuz", wie Georg Baselitz es 1983, gerade zu hellseherisch, betitelt hat. Der Tanz, der im Dorf Luttrum begann, als er, der in der Nachbarschaft wohnt, das Bild der ev.-luth. Kirchengemeinde als Dauerleihgabe, quasi als Geschenk antrug.
Der Tanz ums Kreuz als Fanal der Empörung, der Intrigen, der losgetretenen Feindschaften und tiefen Verletzungen.
Das Bild hat für uns seine Unschuld verloren, es ist, in diese Neustädter Kirche auf Zeit evakuiert, den Augen des Betrachters preisgegeben, dem inquisitorischen Blick, der am nackten Original nachprüft, worüber er ein Urteil schon gefällt hat.
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Prof. Dr. Horst Schwebel
Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg
Baselitz "Tanz ums Kreuz"
I.
Es ist das achte Mal, dass in der Neustädter Kirche "Der Tanz ums Kreuz" zum Anlass einer Meditation wird. Was kann man als achter noch sagen, was nicht schon längst gesagt worden ist? Bereits 3 ½ Stunden wurde über dieses Bild allein hier in der Neustädter Kirche gesprochen.
Es ist erfreulich, dass ein Kunstwerk so intensiv betrachtet wird. Bedenkt man, wie oft ein Fußballtor im Fernsehen gezeigt wird - von rechts, von links, aus der Torwartperspektive, in Zeitlupe, manchmal sogar graphisch -, dann finde ich es mehr als gerecht, wenn man einem Kunstwerk eine gewisse Zeit einräumt. Gemessen an dem Augenblicksereignis eines Fußballtors verdient ein Kunstwerk, dass man sich einen angemessenen Zeitraum mit ihm beschäftigt.
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1938 geboren als Hans-Georg Kern in Deutschbaselitz, Sachsen
1950 Übersiedelung nach Kamenz; Besuch des Gymnasiums bis 1955
1956 Studium der Malerei an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Ost-Berlin bei den Professoren Womaka und Behrens-Hangler; Freundschaft mit Peter Graf und Ralf Winkler (A.R. Penck);nach zwei Semestern Ausschluß wegen "gesellschaftspolitischer Unreife".
1957 Fortsetzung des Studiums an der Hochschule der bildenden Künste in West-Berlin bei Hann Trier; Freundschaft mit Eugen Schönebeck und Benjamin Katz
1958 Umzug nach West-Berlin; erste eigen- ständige Bilder und Zeichnungen
1959 Besuch der documenta II
1960 Beschäftigung mit dem Thema der Anamorphose und mit der Kunst der Geisteskranken (Sammlung Prinzhom); erste Reise nach Paris
1961 Annahme des Künstlernamens Georg Baselitz; Meisterschüler bei Hann Trier
1962 Beendigung des Studiums
1963 Beschlagnahmung zweier Bilder durch die Staatsanwaltschaft; der Prozeßendet erst 1965 mit der Rückgabe
1964 Erste Radierungen auf Schloß Wolfsburg
1965 Stipendiat an der Villa Romana, Florenz; Beschäftigung mit der Graphik des Maruensmus
1966 Umzug nach Osthofen bei Worms; erste Holzschnitte
1969 erstes Bild, in dem das Motiv auf dem Kopf steht; malt von da an ausschließlich
1970 nach dieser Methode ersteAusstellung dieser Bilder im Galeriehaus in Köln
1971 Umzug nach Forst an der Weinstrasse
1972 Erste Werkübersicht im Kunstverein Hamburg; Beginn der Fingermalerei
1975 Übersiedlung nach Demeburg bei Hildesheim
1977 Berufung an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe; zieht seinen Beitrag zur documenta 6 wegen der Teilnahme von offiziellen Repräsentanten der DDR-Maler zurück
1978 Professur in Karlsruhe
1979 Beginn der Arbeit an Skulpturen
1981 Zusätzliches Atelier in Castiglion Fiorentino bei Arezzo
1983 bis Ende 1984 Arbeit an Bildern mit christlichen Motiven;Wechsel von Karlsruhe an die Hochschule der Künste in Berlin
1986 Kaiserringpreisträger der Stadt Goslar
1987 Zusätzliches Atelier in Imperia an der italienischen Riviera
1988 Aufgabe der Professur in Berlin
1989 Verleihung der Medailleeines'Chevalier de l'Ordre des Ar-ts et des Lettres' durch den französischen Kulturrniniser Jack Lang
lebt und arbeitet in Demeburg und Impena
aus:
Künstler, Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst
Ausgabe 18
Eine Edition der Verlage Weltkunst und Bruckmann